am Institut für Germanistik der Justus-Liebig-Universität Gießen

Saskia Fischer, Mareike Gronich, Joanna Bednarska-Kociołek (Hrsg.): Lagerliteratur Schreibweisen - Zeugnisse - Didaktik

Der vorliegende Sammelband von Saskia Fischer, Mareike Gronich und Joanna Bednarska-Kociołek geht auf eine Kooperationsveranstaltung von Prof. Dr. Joanna Jabłkowska (Universität Łodź) sowie Prof. Dr. Wolfgang Braungart (Universität Bielefeld) zum Thema „Lagerliteratur – (auto-)biographische Texte aus den Konzentrationslagern und Ghettos“ im Jahr 2015 an der Mahn- und Gedenkstätte Ravensbrück zurück. In der Einleitung heißt es, Ziel des Sammelbandes sei, „Lagerliteratur als einen eigenständigen Komplex zu profilieren und sein Verhältnis zum Bereich der Holocaustliteratur genauer zu bestimmen“ (S. 9). Diesem Gegenstand wird sich ausgehend von einer ausführlichen Definition der Lagerliteratur in der Einleitung in drei thematisch festgelegten Überkategorien genähert. 

Der Begriff „Lagerliteratur“ umfasst alle Texte, die sich mit den Erfahrungen in den Lagersystemen des NS-Staats und der Sowjetunion befassen. Dies hat zum einen den Effekt, dass der Korpus der Referenztexte um die literarische Auseinandersetzung mit Gulag-Literatur erweitert wird, jedoch gleichzeitig viele Texte, die sich mit den Repressions- und Verfolgungsmaßnahmen der Nationalsozialisten beschäftigen, aus dem Korpus fallen. Eingeschlossen werden aber weiterhin Texte aus und über die Ghettos. Der Sammelband orientiert sich dabei an der Definition von Arkadiusz Moarwiec: Inkludiert wird Literatur aus Konzentrationslagern und Gulags, Lagerliteratur von Autor:innen mit und ohne Lagererfahrung sowie Literatur, die sich mit sogenannten „near camp areas“ (vgl. S. 13) beschäftigt. Ein Zusammenfassen der beiden Lagersysteme wird sehr schlüssig damit begründet, dass „[d]ie Lagerhaft […] Ausdruck des Bestrebens zweier totalitärer Regime [war], die Würde des Menschen und den Wert von vermeintlich unwürdigem Leben vollständig auszulöschen“ (S. 14).

Der Sammelband ist in drei Themenblöcke aufgeteilt. Der erste Bereich widmet sich den Schreibweisen der Lagerliteratur und den „[l]iterarische[n] Darstellungen des (Über-) Lebens und Sterbens in Lagern und Ghettos“. Der erste Beitrag von Stephan Pabst nimmt einen Vergleich der Werke „Nackt unter Wölfen“ von Bruno Apitz und „Der Funke Leben“ von Erich Maria Remarque vor. Er untersucht die sich ähnelnden erzählerischen Verfahren beider Autoren in Bezug auf die stark voneinander abweichenden ideologischen Zielsetzungen ihrer Werke. 

Zwei sich sehr gut ergänzende Aufsätze beschäftigen sich mit Jurek Becker: Wolfgang Braungart geht der narrativen und poetologischen Bedeutung von dem Leitmotiv des Baumes in Beckers Romananfang „Jakob der Lügner“ nach. Der Baum bestimmt den gesamten Romananfang und gibt damit eine Grundlage für die Deutung. Beckers Roman, so heißt es im Fazit „leistet Darstellungs- und Erinnerungsarbeit als ästhetische Selbstbehauptung des Subjekts in seiner Freiheit und Würde“ (S. 85). Elżbieta Tomasi-Kapral beschäftigt sich mit den autobiographischen Voraussetzungen des Autors, der schreibend versuche, sich seiner Erinnerung zu nähern. Sie zeigt, wie sich Beckers Roman gegen die Strömung des Sozialistischen Realismus bewegt und trotzdem zu einem Erfolg wurde. Der Roman sei ein eigener und besonderer Beitrag zur Erinnerungskultur. 

Den Schluss macht die Untersuchung der Poetik in Herta Müllers „Atemschaukel“ von Saskia Fischer. Der Roman lasse sich als „poetisch gestalteter Erinnerungsprozess“ (S. 141) verstehen, da Müllers Text auf den Erinnerungen des Dichters Oscar Pastior basiert. Der Roman lebe von hermetischen Metaphern und starken sprachlichen Bildern. Die Analyse stützt sich dabei auf die Bonner Poetik Vorlesung von Herta Müller zum Thema Schuld. 

Der zweite Bereich ist mit der Überschrift „Zeugnisse“ betitelt und fokussiert ästhetische Auseinandersetzungen aus und über Lager und Ghettos. Markus Roth behandelt in dem ersten Artikel dieses Schwerpunkts die verschiedenen Schreib- und Lesarten des Warschauer Ghettoaufstandes. Dabei werden Heroisierungs- und Deheroisierungsstrategien in verschiedenen Werken analysiert, wie etwa in Hanna Kralls „Dem Herrgott zuvorgekommen“, in dessen Zentrum Marek Edelmans Erinnerung an den Aufstand steht, oder David Safiers Roman „28 Tage lang“.

Die Aufsätze von Sonja Thau und Magda Grzybowska thematisieren die Verarbeitung von traumatischen Ereignissen durch Lyrik. Thau analysiert die Wirkung von Grażyna Chrostowskas Gedichten auf ihre Mitgefangenen in Ravensbrück, während Grzybowska sich mit der Lyrik und Prosa des Jugendlichen Abram Cytryn im Ghetto Łodź auseinandersetzt. Miklós Takács betrachtet die Neuinterpretation von Zeugenschaft von Éva Fahidi, die sich durch den bewussten Einsatz ihres Körpers in einem Tanztheater mit ihren Erlebnissen auseinandersetzt. 

Der Didaktik der Lagerliteratur und ihrer Vermittlung widmen sich drei Aufsätze aus drei unterschiedlichen Perspektiven. Ulrike Preußer fragt, welche Aspekte historischen Lernens in den Kinder- und Jugendromanen von Gudrun Pausewang („Reise im August“), Klaus Kordon („Julians Bruder“) und Michail Krausnick und Lukas Ruegenberg („Elses Geschichte“) ermöglicht werden. Ein Gespräch unter Lehramtsstudierenden zu den Chancen und Grenzen von Brunos Naivität in John Boynes „Der Junge im gestreiften Pyjama“ steht im Fokus von Michael Pentolds Aufsatz. Renata Behrendt und andere stellen ein Theaterprojekt über die Euthanasie Verbrechen in der Haarer Psychiatrie vor. Hier eignen sich Schüler:innen Opferbiographien an und stellen diese in einer performativen Darstellung den Zuschauer:innen vor. Zentral ist der Aspekt der Polyvalenz des theatralen Erinnerns. 

In dem Sammelband werden unbekanntere neben den bereits tradierten und bekannten Autor:innen gleichberechtigt behandelt. Dadurch wird der bestehende Korpus um einzelne Werke auf geeignete Weise erweitert. Zudem wird hier sowohl im analytischen als auch im didaktischen Teil durch den Einbezug von performativen Darstellungen ein sehr weiter Literaturbegriff angewendet, was einen weiteren spannenden Aspekt der Auswahl der Herausgeber:innen ausmacht. Insgesamt liefert der Sammelband inhaltlich neue und interessante Denkanstöße. Es bleibt jedoch ein Kritikpunkt, der vermutlich auf einem Korpusproblem basiert: Der Band macht es sich zum Ziel, den Korpus der Lagerliteratur in Richtung Gulag-Literatur zu öffnen. Dies wird in der Einleitung sehr deutlich herausgearbeitet, es bleibt aber bei einem Aufsatz dazu von Saskia Fischer, der sich dem Thema anhand Herta Müllers „Atemschaukel“ nähert. Wünschenswert wäre hier ein Folgeband, der sich mit diesem Aspekt der Lagerliteratur intensiver beschäftigt. 

Von Sandra Binnert (Arbeitsstelle Holocaustliteratur, JLU Gießen)

Saskia Fischer, Mareike Gronich, Joanna Bednarska-Kociolek (Hrsg.)
Lagerliteratur- Schreibweisen – Zeugnisse – Didaktik
Sammelband
Deutsche Literatur & Kulturwissenschaften
Reihe: Lodzer Arbeiten zur Literatur- und Kulturwissenschaft, Band 15
374 Seiten


Drucken
TOP
Arbeitsstelle Holocaustliteratur
Otto-Behaghel-Str. 10 B / 1 · D-35394 Gießen · Deutschland
arbeitsstelle.holocaustliteratur@germanistik.uni-giessen.de
News

Diese Webseite verwendet Cookies
Wir verwenden Cookies, um Inhalte und Funktionen personalisieren zu können. Bitte treffen Sie Ihre Auswahl, um den Funktions-Umfang unserer Cookie-Technik zu bestimmen. Weitere Informationen zu Cookies finden Sie in unserer Datenschutzerklärung.