von Klaus Konrad-Leder und Kristine Tromsdorf
Die seit 1997 bestehende Stiftung wurde von Ernst-Ludwig Chambré, einem aus dem oberhessischen Lich stammenden Holocaust-Überlebenden, gegründet. Dessen sephardische Familie war seit dem 18. Jahrhundert in Lich ansässig und betrieb dort ein Manufakturwarengeschäft und eine kleine Privatbank. Politisch engagierten sich der 1909 geborene Ernst-Ludwig und sein Vater Max nach dem ersten Weltkrieg, in dem Max Chambré als Frontsoldat diente, im SPD-Nahen Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold. Dies führte dazu, dass die Familie Chambré – zu der außer Vater und Sohn noch Mutter Emilie und die beiden Töchter Henriette und Anne-Marie gehörten – deutlich in den Focus der im damaligen Oberhessischen seit 1927 agitierenden NSDAP geriet. Eine Woche nach der Reichstagswahl vom März 1933 – bei der die Wahlerfolge der Nazi-Partei in Oberhessen deutlich über dem Reichsdurchschnitt lagen (1) - kam es in Lich zu einem Pogrom: Licher SA-Männer überfielen die dort lebenden jüdischen Familien. Etliche jüdische Familienväter wurden gefoltert, Max Chambre wurden beide Kniescheiben zertrümmert, er konnte nie wieder ohne Hilfe gehen. Sohn Ernst entkam diesem Pogrom nur deshalb, weil er sich an diesem Tag nicht in Lich aufhielt.
Ernst-Ludwig Chambré überlebte als einziger den Holocaust, seine gesamte Familie Eltern, Schwestern und zwei Nichten wurden in Auschwitz ermordet.
1987 recherchierten Schülerinnen und Schüler der Licher Gesamtschule die Zeit des Nationalsozialismus in ihrer Stadt, Anlass hierfür waren Nazi-Schmierereien an einer Kirche des Ortes. Es konnte ein Kontakt zu dem mittlerweile in den USA lebenden Ernst-Ludwig Chambré hergestellt werden, der sich im Lauf der nächsten Jahre festigte und vertiefte. 1997 – ein halbes Jahr nach Ernst-Ludwig Chambrés Tod - erfolgte die Gründung der nach ihm benannten Stiftung, deren Zielsetzungen noch zu seinen Lebzeiten mit ihm gemeinsam festgelegt worden waren und die er großzügig finanziell ausgestattet hat.
Seitdem ist es Aufgabe der Stiftung, die Erinnerung an das hessische Judentum aufrecht zu erhalten und zur Erforschung der Entstehungsbedingungen von Antisemitismus und Rassismus beizutragen. Hierzu fördert die Stiftung etwa Projekte und Publikationen der Arbeitsstelle Holocaustliteratur am Institut für Germanistik der Justus-Liebig-Universität (2). Zudem finanziert sie seit 2017 gemeinsam mit der Justus-Liebig-Universität die Ernst-Ludwig-Chambré-Stiftungsprofessur für Neuere Deutsche Literatur mit dem Schwerpunkt Holocaust- und Lagerliteratur sowie ihre Didaktik am Institut der JLU Gießen. Im Mittelpunkt der Arbeit der Professur steht die literaturwissenschaftliche und -didaktische Untersuchung und Bearbeitung der Holocaust- und Lagerliteratur. Stelleninhaber ist seit 2017 Prof. Dr. Sascha Feuchert, der die mit der Professur verbundene Arbeitsstelle Holocaustliteratur leitet.
Die Stiftung engagiert sich darüber hinaus im kulturellen Bereich und ist schließlich fördernd und operativ in der politischen Bildungsarbeit im Themenfeld ′Erinnern des Holocaust′ tätig. Hier bietet die Stiftung – in Kooperation mit dem Jugendbildungswerk des Landkreises Gießen – jährlich mehrtägige Seminare in den Gedenkstätten Auschwitz und Buchenwald an.
Das Konzept dieser Seminarangebote, die sich an Jugendliche im Alter von 15-20 Jahren richten, baut auf einigen pädagogischen Grundsätzen auf, die nachstehend aufgeführt und kurz erläutert werden sollen:
a. Teilnahme aufgrund einer begründeten freiwilligen Entscheidung.
b. Ausführliche inhaltliche Vorbereitung in der Freizeit der Teilnehmenden (i.d.R. an Wochenenden).
c. Führen eines Journals (siehe unten) und Einhalten gruppenorientierter Kommunikationsregeln
d. Bereitschaft zur Teilnahme einer Nachbereitung des Seminars (produktorientiert).
Eine begründete freiwillige Teilnahme halten wir aus folgenden Gründen für notwendig: zunächst, um dem oft gehörten und womöglich subjektiv auch empfundenen Vorwurf der ′Überfütterung′ mit dieser Thematik entgegenzuwirken. Obgleich es mittlerweile evident zu sein scheint, daß diejenigen Jugendlichen, die ein Übermaß an schulischer Beschäftigung mit der NS-Thematik beklagen, zugleich diejenigen sind, deren Wissen um diese Zusammenhänge eher geringer ist (3), gehen wir davon aus, dass ein Seminarangebot für diese Zielgruppe nicht sinnvoll ist. Dann halten wir den oft geäußerten Vorwurf, es handele sich bei unserem Angebot um eines, das sich an Teilnehmende richte, die es im Grunde ′nicht nötig hätten′ aus zwei Gründen für irrelevant: Dieses Argument geht, wie es scheint, von der (stillschweigenden) Annahme aus, dass Menschen mit einem gewissen Bildungsgrad oder Informationsstand ein solches Seminar nicht benötigten und insinuiert gleichzeitig, dass ein solches Angebot wohl für solche Menschen geeignet sei, die über eine entsprechende Vorbildung nicht verfügen, gleichgar anfällig für rechtsextreme Einstellungen seien.
Unseres Erachtens gibt es keine nachweisbare Relation zwischen Bildungsgrad und qua diesem bestehender antifaschistischer Grundhaltung, ebenso wenig gibt es Gründe zu der Annahme, dass die Teilnahme an einem Seminar in einer KZ-Gedenkstätte ein Palliativ gegen latente oder manifeste rechtsextreme Positionen sein kann.
Unser Seminarangebot richtet sich an solche Teilnehmerinnen und Teilnehmer, die eine grundsätzlich ablehnenden Haltung gegen Rechtsextremismus, Antisemitismus, Rassismus einnehmen, gleichwohl aber noch nicht zu einem dezidierten öffentlichen Engagement bereit sind. Die persönliche Entscheidung für ein solches Engagement zu fördern, ist Hauptziel unserer Bemühungen.
Die Teilnahme an den vorbereitenden Veranstaltungen - etwa sechs bis acht Termine an Wochenenden – wird von den Teilnehmenden erwartet. Sie ist sozusagen die ′conditio sine qua non′. Zwei Gründe sind hierfür – aus unserer Sicht – anzuführen: zum einen wird die Ernsthaftigkeit der Teilnahmeentscheidung einer ersten Prüfung unterzogen – schließlich (und das wird den Teilnehmenden gegenüber auch so kommuniziert) übernimmt unsere Stiftung mit Ausnahme eines symbolischen Beitrages alle anfallenden Kosten. Zum anderen ist es nach unseren Erfahrungen wichtig, daß die Teilnehmerinnen und Teilnehmer einen grundlegenden Eindruck von dem Ort und den Ereignissen dort erhalten Dies schützt wenigstens insoweit vor emotionalen Überwältigungen, als daß eine in aller Regel vor Ort auftretende ′Sprachlosigkeit′ überwunden werden kann.
Hierzu bedarf es auch einer stabilen Kommunikationsstruktur innerhalb der Seminargruppe, die von Offenheit und gegenseitigem Vertrauen bestimmt ist.
Da sich die Teilnehmerinnen und Teilnehmer zu Beginn einer Seminarvorbereitung nicht kennen, werden die vorbereitenden Treffen dazu verwendet, gegenseitiges Kennenlernen zu befördern und Offenheit und gegenseitiges Vertrauen herzustellen. Hierzu werden kommunikative ′Rituale′ implementiert, wie etwa das ′Kreisgespräch′ oder das persönliche Journal.
Das Kreisgespräch verlangt von jedem Teilnehmenden eine Äußerung zu einem gesehenen Film etc.; hierbei wird sehr bewußt von schulischen Ritualen abgewichen. Zumindest die Mitteilung, daß man nichts zu sagen habe/nichts sagen könne/nichts sagen möchte, wird erwartet. Auch das persönliche Journal, das während der Vorbereitungen und während des Seminars selber geführt wird (ggf. durch ′Schreibaufträge′ befördert) dient der individuellen Reflexion und ist gleichzeitig eine Grundlage, auf der offene und vertrauensvolle Kommunikation stattfinden kann. Im Gegensatz zum ′Kreisgespräch′ ist es den Teilnehmenden überlassen, ob und was sie aus ihren Journaleinträgen der Gruppe mitteilen möchten, freilich wird auch hier eine Begründung erwartet. Die Journale verbleiben nach dem Seminar im Besitz der Teilnehmerinnen und Teilnehmer.
Im Rahmen einer nachbereitenden Veranstaltung, die mehrere Wochen nach dem Seminar stattfindet, wird ein vorläufiges Fazit gezogen und die Frage erörtert, ob und gegebenenfalls in welcher Form die Erfahrungen des Seminars verarbeitet werden sollen.
Die Angebote reichen vom Erstellen einer Photoausstellung bis zum Gestalten einer Lesung und haben das Ziel, Öffentlichkeit herzustellen. Hier sind im Laufe der Jahre beeindruckende Ergebnisse entstanden (4) .