"Unser einziger Weg ist Arbeit"
Vor 60 Jahren wurde das Getto in Lodz liquidiert und 76 000 Menschen ins Vernichtungslager transportiert
Von Heidrun Helwig
Lodz/Giessen. Es ist heiß und sonnig an jenem 30. Juli. Mit Temperaturen bis 38 Grad. Und wie bereits der Samstag verläuft auch der Sonntag "sehr ruhig". Wenngleich der Verkehr inzwischen überaus lebhaft ist. Es ist deutlich zu spüren, dass der Krieg allmählich auch an Litzmannstadt - der nationalsozialistische Name für die Stadt Lodz - heranrückt. "Neugierig schaut der Gettomensch den durcheilenden Kraftwagen der verschiedenen Waffengattungen nach. Das Wichtigste aber ist für ihn doch noch immer: "Was gibt es zum Essen?". Denn Hunger bestimmt dem Alltag der jüdischen Bewohner. Und "wenn morgen, Montag, kein Mehl einkommt, kann die Lage äußerst kritisch werden." Ob das ersehnte Mahl geliefert wird, bleibt offen. Denn mit dem Eintrag an diesem heißen Julitag reißt die Chronik ab. Bekannt aber ist, dass die Lage weit mehr als kritisch wird. Denn im August 1944 wird das Getto Lodz liquidiert. Insgesamt 76000 Menschen werden nach Chelmno, jenem Vernichtungslager, das die Deutschen Kulmhof nennen und das 55 Kilometer vom Getto entfernt liegt, sowie nach Auschwitz-Birkenau deportiert.
Gedenkveranstaltungen
Der letzte Transport verlässt Lodz am 29. August 1944. Das liegt nun genau 60 Jahre zurück. Und erstmals erinnert die Stadt, deren Name mit dem zweitgrößten nationalsozialistischen Getto auf polnischem Gebiet verbunden ist, an die zahllosen Opfer in großen öffentlichen Gedenkveranstaltungen. Erwartet werden dazu auch rund 2000 Überlebende des Naziterrors aus aller Welt. Pünktlich zu diesem Gedenktag ist nun der erste Band der "Lodzer Getto-Chronik" erschienen, der diese "Letzten Tage" umfasst. Gleichsam ein Zeichen der Versöhnung, dass ein polnisch-deutsches Forscherteam den liebevoll gestalteten, einfühlsam kommentierten, anrührenden Band gemeinsam vorgelegt hat. Die Zusammenarbeit ist damit keineswegs beendet. Denn bis 2006 soll die rund 2000 Seiten umfassende Chronik in ihren Originalsprachen deutsch und polnisch komplett veröffentlicht werden. Gemeinsam bearbeitet von der Arbeitsstelle Holocaustliteratur der Gießener Universität und einer Arbeitsgruppe aus Lodz. Gefördert wird das Projekt von der Deutschen Forschungsgemeinschaft. In Polen erfährt die Kooperation der Wissenschaftler große Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit. Ganz anders bislang in Deutschland.
Die Chronik ist ein erschütterndes Zeugnis der Ereignisse im Getto. Akribisch notieren die etwa 15 Mitarbeiter - überwiegend Schriftsteller und Journalisten - die täglichen Nachrichten. Berichten über Wetter und Bevölkerungsstand. Informieren über besondere Vorkommnisse und verzeichnen akribisch den Unfang der Lebensmittellieferungen. Vermelden die Sterbefälle samt Todesursache und die "Transporte zur Arbeit außerhalb des Gettos". Doch die Chronik ist weit mehr als eine Sammlung von Tagesnachrichten und statistischen Daten. Um die reine Wiedergabe der Fakten des Alltags gruppieren sich nach und nach literarisch gefärbte und sogar humoristische Texte. Ab 1943 erscheinen feste Rubriken wie "Man hört, man spricht", "Kleiner Getto-Spiegel" oder "Getto-Humor". Dadurch erscheint die Chronik wie eine Tageszeitung. Mit Berichten und Kommentaren, Glossen und unterhaltenden Artikeln. Gleichwohl ist die "Chronik" letztlich Teil der vorgetäuschten Normalität eines alltäglichen Lebens, die sich aus Sicherheitsgründen einer internen Zensur unterwirft. Aber für die Autoren des kollektiven Tagebuches gibt es - anders als für Journalisten üblich - keine unmittelbare Leserschaft. Konsequent wenden sie sich deshalb an zukünftige Leser. Das wird nicht nur am 2. Juli 1944 offenkundig mit dem Hinweis: "Ein wenig kompliziert sind die Sachen für den erstaunten Leser unserer Nachwelt." Dass die Getto-Chronik nun nach 60 Jahren tatsächlich die Nachwelt erreicht, ist geradezu ein Wunder. Nachmann Zonabend, ein ehemaliger Briefträger im Getto, der zum "Aufräumkommando" gehört, das die SS nach der vollständigen Liquidierung aus ehemaligen Bewohnern bildet, entdeckt im Haus des Getto-Archivs mehrere Koffer mit Texten und Dokumenten. Er versteckt sie in einem ausgetrockneten Brunnen und kann sie nach der Befreiung bergen.
Häuser aus Holz
Doch trotz ihrer historischen - und literarischen - Bedeutung ist die "Chronik" niemals vollständig veröffentlicht worden. Ein polnischer Editionsversuch bleibt nach zwei Bänden Mitte der 60er Jahre stecken. Die Editoren geraten in die Mühlen der alle gesellschaftlichen Bereiche ergreifenden antisemitischen Unruhen in Polen. Einer der Herausgeber, Lucjan Dobroszycki, kann seine Arbeit in Amerika fortsetzen. Doch entscheidet er sich für eine Kurzausgabe in englischer Übersetzung: Nur ein Viertel des Chroniktextes wird von ihm publiziert, den er zudem häufig bearbeitet und an verschiedenen Stellen neu arrangiert. Seither galt es als wissenschaftlicher Konsens, dass das kollektive Tagebuch ein "Oberklassentext" sei, der nicht die "tatsächliche Geschichte" des Gettos wiedergebe. An der Editionsgeschichte spiegelt sich auch die generelle Auseinandersetzung mit dem Lodzer Getto wider. Denn: Lodz bleibt - ganz anders als Warschau - ein Getto am Rande. Ein Getto, dessen Geschichten viel seltener erzählt werden. Schließlich fehlen die großen symbolischen Widerstandshandlungen, die zur Identifikation hätten einladen können, und obendrein stand an der Spitze der scheinbaren jüdischen Selbstverwaltung mit Mordechaj Chaim Rumkowski eine der umstrittensten Figuren in der Geschichte des Holocaust. Ihn ernennen die Deutschen zum "Ältesten der Juden" des Gettos, das am 8. Februar 1940 eingerichtet wird. Weitreichende Repressionen aber müssen die rund 210 000 Juden, die in Lodz leben, schon zuvor ertragen. Vor allem, seit die Stadt Anfang November 1939 in das Deutsche Reich eingegliedert wird. Das "Wohngebiet der Juden" umfasst hauptsächlich das ehemalige Armenviertel und die Altstadt. Dort gibt es rund 2500 Häuser mit insgesamt 31 000 Zimmern. Kaum eines der überwiegend aus Holz erbauten Gebäude verfügt über fließend Wasser oder einen Anschluss an die Kanalisation.
Perfekte Isolation
1942 gar wird das Getto nochmals verkleinert. 42587 Menschen pferchen die Nazis nun auf einen Quadratkilometer zusammen. In einem Raum sind sechs bis sieben Personen untergebracht. In keinem Getto im besetzen Polen wird die Isolierung mit solcher Perfektion betrieben. Denn die fehlende Kanalisation macht es nahezu unmöglich, das Getto zu verlassen oder einen nennenswerten Schmuggel zu organisieren. Zu einer völligen Isolierung trägt aber auch die "Eindeutschung" von Lodz bei. Im Innern wird unter der Leitung vom Rumkowski eine scheinbare jüdische Selbstverwaltung aufgebaut, die den Bewohnern die "Illusion der Normalität" vorgaukelt. Mit Krankenhäusern, Postwesen, Arbeitsamt, Schulen, Kulturhäusern. Gleichzeitig wird das Getto zunehmend umgestaltet ein reines Arbeitslager, das zu 90 Prozent für die deutsche Rüstungsindustrie produziert. Mit seiner umstrittenen Politik der bedingten Kooperation unter der Parole "Unser einziger Weg ist Arbeit" versucht Rumkowski, die jüdischen Arbeitskräfte für die deutschen Behörden unentbehrlich zu machen. Arbeitsunfähige, Kranke, Kinder und alte Menschen aber haben keine Überlebenschance. Ihr Leben endet entweder durch Hunger oder im Vernichtungslager. Zumal aus Österreich, Böhmen, Luxemburg und dem "Altreich" immer mehr Juden nach Lodz deportiert werden.
Zur scheinbaren Normalität im Getto gehören auch die statistische Abteilung und das Archiv. Dabei stammt die Initiative, die Geschichte und Entwicklung des Gettos für zukünftige Generationen zu dokumentieren, offenbar von Rumkowski selbst. Die Abteilung hat von Anfang an Doppelcharakter: Oberflächlich arbeitet sie für die Deutschen und das bietet Schutz für umfangreiche Archivierungsarbeiten. Dazu zählt auch die Chronik. "Man darf sich unter A[rchiv] keine stille Gelehrtenstube vorstellen, wo emsig geschrieben und gesammelt wurde. [...]Hunger und Kälte liessen eine halbwegs regelmäßige und erspriessliche, schöpferische Arbeit kaum zu", beschreibt Oskar Singer die Situation für die Nachwelt. Der Jurist und Journalist aus Prag zählt neben Oskar Rosenfeld, Schriftsteller und ebenfalls Journalist, zu den Hauptautoren der Chronik. Ihre schöpferische Arbeit wird vor allem in den letzten beiden Monaten von der Liquidierung beeinflusst. Denn neben Hunger macht sich die immer größer werdende Unsicherheit, ob und wie das Leben weiter geht, deutlich bemerkbar. Nicht nur im Inhalt der Chronik - der spielerische Umgang mit Getto-Gerüchten im "Getto-Spiegel" ist fast völlig verstummt, Rubriken wie "Getto-Humor" verschwinden ganz. Auch der Ton der Tagesberichte wird ernster, Sprache und Stil unterscheiden sich inzwischen beträchtlich von den Texten der Jahre 1942 bis 1944.
Und obgleich man zwischen den Zeilen lesen kann, dass sich die Chronisten des nahen Endes des Gettos bewusst sind, keimt auch immer wieder Hoffnung auf. Etwa am 26. Juli: "Frohe Nachricht für's Getto. Postkarten aus Leipzig. Von Personen, die im Zuge der letzten Aussiedlung zur Arbeit außerhalb des Gettos abgereist sind, sind heute die ersten Nachrichten im Getto eingetroffen. Es kamen 31 Postkarten, die durchweg den Poststempel vom 19. Juli tragen. Aus diesen Karten geht erfreulicherweise hervor, dass es den Leuten gut geht und hauptsächlich, dass die Familien beisammen sind." Die Karten aber sind von den Nazis gefälscht, um der wachsenden Unruhe im Getto zu begegnen. Die vermeintlichen Absender längst in Chelmno ermordet. Wenige Tage später werden auch Oskar Singer und Oskar Rosenfeld nach Auschwitz deportiert. Sie überleben ebenso wenig wie Mordechaj Chaim Rumkowski, der ihnen mit seiner Familie am 28. August 1944 im vorletzten Transport folgt.
"Letzte Tage. Die Lodzer Getto-Chronik Juni/Juli 1944." Herausgegeben von Sascha Feuchert, Erwin Leibfried, Jörg Riecke sowie Julian Baranowski und Krystyna Radziszewska. Wallstein-Verlag 2004, 256 Seiten, 19 Euro.