Zur Definition des Gegenstandes
Die Bezeichnung Holocaustliteratur ist spätestens seit den 1980er Jahren weit verbreitet. Ausgehend von den Vereinigten Staaten, dort unter anderen von der Literaturwissenschaftlerin und Holocaust-Überlebenden Susan Cernyak-Spatz angestoßen, hat sich die wissenschaftliche Beschäftigung mit der Holocaustliteratur auch in Deutschland zu einem vielfältigen Diskurs- und Forschungsfeld entwickelt. Dabei war es immer wieder umstritten, was zu dieser Gruppe von Texten (oder auch Gattung) gehörte.
In Gießen vertreten wir ein weites Verständnis: Ausgehend von der Tatsache, dass die Verbrechen der Nationalsozialisten gegen andersdenkende und vermeintlich andersartige Menschen bereits 1933 begannen und dass darüber auch sofort (im weiteren Sinne) literarisch geschrieben wurde, halten wir es für sinnvoll, zu der Gattung Texte über alle Aspekte der nationalsozialistischen Verfolgungs- und Vernichtungspolitik beginnend mit den ersten Maßnahmen der Ausgrenzung ab 1933 bis hin zu den Massenmorden während des Zweiten Weltkriegs zu zählen. Dies schließt Texte zur Verfolgung von Juden, politischen Gegnern, Homosexuellen, Sinti und Roma, Zeugen Jehovas und anderen ab 1933 ein. Wir gehen davon aus, dass sich im Laufe der Zeit eine eigenständige Gattung entwickelt hat, die sich durch gemeinsame Merkmale gut beschreiben lässt.
Ganz wesentlich hat sich diese Gattung aus der frühen Lagerliteratur entwickelt, die ihrerseits mit der Tradition der Gefängnis- und Kriegsgefangenenliteratur vor 1933 in Verbindung stand. Zu dieser frühen Lagerliteratur gehören die Texte – Berichte, Tagebücher, Autobiografien, Romane und Gedichte – der Opfer und Überlebenden, die von den Geschehnissen in den nationalsozialistischen Lagern vor 1939 Zeugnis ablegen und erzählen. Um diese Entwicklung deutlich im Gattungsnamen abzubilden, ist es deshalb sinnvoll, von Holocaust- und Lagerliteratur zu sprechen.
Nach dem Gießener Verständnis fallen unter Holocaust- und Lagerliteratur folglich alle literarischen Werke, die das Schicksal der politischen, rassischen und anderen Opfergruppen der Nationalsozialisten zentral behandeln. Das bedeutet, dass hierzu die noch während des Geschehens entstanden Zeugnisse, wie Tagebücher und Chroniken ebenso zählen wie nachträglich verfasste Erinnerungen. Überdies umfasst der Begriff auch fiktionale Werke wie Romane, Gedichte und Dramen, die entweder bereits während der Ereignisse oder aber erst nach Kriegsende entstanden sind. Dies können Texte von unmittelbar betroffenen Opfern und Überlebenden, von Nachgeborenen der zweiten und dritten Generation oder aber von gänzlich Unbeteiligten sein.
Weiterführende Literatur:
Susan Cernyak-Spatz: German Holocaust-Literature. New York (u.a.): Lang 1985.
Sem Dresden: Holocaust und Literatur. Frankfurt/Main: Jüdischer Verlag 1997.
Sascha Feuchert [Hg.]: Holcaust-Literatur: Auschwitz. Stuttgart: Reclam 2000. S. 5-26.
Sascha Feuchert: Oskar Rosenfeld und Oskar Singer. Zwei Autoren des Lodzer Gettos. Studien zur Holocaustliteratur. Frankfurt/Main: Lang 2004. S. 13-54.
Andrea Reiter: „Auf daß sie entsteigen der Dunkelheit“. Die literarische Bewältigung von KZ-Erfahrung. Wien: Löcker 1995.
Markus Roth: Gattung Holocaustliteratur? Überlegungen zum Begriff und zur Geschichte der Holocaustliteratur. In: Holý, Jiri (Hg.): The Aspects of Genres in the Holocaust Literatures in Central Europe / Die Gattungsaspekte der Holocaustliteratur in Mitteleuropa. Prag 2015. S. 13-23.
James E. Young: Beschreiben des Holocaust. Darstellung und Folgen der Interpretation. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1997.