Sascha Feuchert, Ronald Hirte, Daniel Lörcher und Isabel Mücke diskutierten über die Rolle der Gedenkstätten und der Literatur für die Erinnerung an den Holocaust in der Bildungsarbeit sowie über Vor- und Nachteile verpflichtender Gedenkstättenbesuche.
Was bedeutet das Ende der Zeitzeugenschaft für die Gedenkstättenarbeit und die schulische und außerschulische Bildungsarbeit und welche Rolle kann dabei die Literatur, insbesondere die Zeugnisliteratur, einnehmen? Welche Herausforderungen stellen sich aktuell gesellschaftlich, etwa im Hinblick auf die Migrationsgesellschaft, und wie kann durch die Arbeit in den Gedenkstätten und die Erinnerung an den Holocaust Rassismus entgegengewirkt und vorgebeugt werden?
Unter anderem diese Fragen diskutierten am Montag, den 8. Oktober 2018, im Biologischen Hörsaal der JLU Gießen Sascha Feuchert (Arbeitsstelle Holocaustliteratur), Ronald Hirte (Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora), Daniel Lörcher (Fanbeauftragter des BVB Dortmund) und Isabel Mücke (Mahn- und Gedenkstätte Düsseldorf). Moderiert wurde das Gespräch von Markus Roth (Arbeitsstelle Holocaustliteratur).
Einig waren sich die Teilnehmer, dass die Literatur, aber auch etwa aufgezeichnete Zeitzeugengespräche, zukünftig notwendigerweise an die Stelle der Zeitzeugen treten müssen, da die Vermittlung individueller Schicksale notwendig sei, um Nähe zu den sonst abstrakten Ereignissen herzustellen. Der Kontext sei dabei entscheidend, so argumentierte Daniel Lörcher, der als Fanbetreuer beim Fußballverein Borussia Dortmund unter anderem Bildungs- und Erinnerungsreisen in das ehemalige Getto von Lublin organisiert. In den Gedenkstätten sei man schon seit längerem darauf eingestellt, dass es auch ohne Zeitzeugen gehen müsse, so waren sich Lörcher und Isabel Mücke einig. Isabel Mücke arbeitet in der Mahn- und Gedenkstätte Düsseldorf vor allem daran, das Gedenkstättenangebot inklusiv und barrierearm zu gestalten, etwa durch die Übersetzung von Texten in Leichte Sprache. Ronald Hirte, der seit vielen Jahren an der Gedenkstätte Buchenwald das pädagogische Angebot der Gedenkstätte mitgestaltet, führte an, dass das Gespräch mit Überlebenden und Besuchergruppen – den Begriff Zeitzeuge möchte er lieber vermeiden – sich oftmals auch schwierig gestalte, da die Überlebenden einerseits auf einen Sockel gesetzt würden und so ein echtes Gespräch auf Augenhöhe verhindert werde. Andererseits sei auf Seiten der Zuhörer auch oft „viel Emotion und wenig Ahnung“ erkennbar, so Hirte. Dieser Einschätzung widersprach Sascha Feuchert. Die zahlreichen Gespräche zwischen Überlebenden und Studierenden, die die Arbeitsstelle in den vergangen 20 Jahren organisiert habe, hätten gezeigt, dass diese jenseits der emotionalen Ebene oft auch große Effekte haben – nämlich Individualität und einen persönlichen, direkten Zugang zu den Ereignissen herzustellen.
Im Hinblick auf die aktuellen gesellschaftlichen Anforderungen und Probleme, wie etwa Migration und Rechtsradikalismus, die jeweils andere und besondere Herausforderungen für die Bildungsarbeit mit sich bringen, diskutierten die Teilnehmer des Podiums vor allem über die Frage, ob verpflichtende Gedenkstättenbesuche sinnvoll und wünschenswert sind oder eher Abwehr verstärken und einen Lerneffekt verhindern, wie Sascha Feuchert befürchtet. Isabel Mücke und Ronald Hirte berichteten übereinstimmend, dass ein Großteil der besuchenden Schulklassen in den Gedenkstätten aus „Unfreiwilligen“ bestehe. Gute Vorbereitung der Lehrer und Schüler auf den Gedenkstättenbesuch sei die Ausnahme, so betonte Hirte. Die verpflichtende Teilnahme stelle natürlich, so Mücke, die Pädagogik vor schwierige Aufgaben, da zunächst ein menschlicher Zugang zu den Teilnehmern einer Führung gefunden werden müssen, bevor mit der „Bildung“ begonnen werden könne. Reine Freiwilligkeit könne sie sich dennoch nur schwer vorstellen, so Mücke weiter. „Wir müssen an diese Zielgruppe herankommen“.
Im abschließenden Gespräch mit den Besuchern der öffentlichen Podiumsdiskussion, die als Fortbildungsangebot von der Hessischen Lehrkräfteakademie akkreditiert war, wurde vor allem über schulische Besuche in den Gedenkstätten diskutiert. Damit Lehrer auf solche Bildungsangebote hinweisen und Schüler dafür interessieren und motivieren können, sei vor allem eine gute Ausbildung und Sensibilisierung im Hinblick auf diese Themen in der Lehrerausbildung notwendig, so stellten mehrere Beiträger aus dem Publikum fest. Auch eine bessere Vernetzung zwischen Schulen und Gedenkstätten sei wünschenswert. Statt Quantität müsse mehr Qualität sichergestellt werden, also weniger Projekte, sich dafür aber mehr Zeit für hochwertigere Angebote nehmen. Statt einem Gedenkstättenbesuch, bei dem Schüler in zweieinhalb Stunden über das Gelände gejagt würden, seien mehrtägige Angebote viel erfolgreicher und nachhaltiger, betonten auch Hirte und Feuchert. Dieser Trend sei bereits erkennbar in der Gedenkstättenpädagogik. Insgesamt bedürfe es jedoch noch einigen Nachdenkens und gemeinsamen Sprechens über erfolgreiche Gedenkstättenpädagogik, insbesondere für Schulen, da waren sich alle Teilnehmer einig.