am Institut für Germanistik der Justus-Liebig-Universität Gießen

Novemberreihe

Gemeinsam mit zahlreichen Partner - darunter die Arbeitsstelle Holocaustliteratur - organisiert die Chambré-Stiftung in jedem Jahr eine Veranstaltungsreihe zur Erinnerung an den 9. November 1938. Der Großteil der vielfältigen Veranstaltungen findet in Lich (Landkreis Gießen) statt.

Die Pogromnacht am 9. November 1938

Das Attentat eines siebzehnjährigen Studenten polnisch-jüdischer Herkunft auf einen Sekretär der deutschen Botschaft in Paris wird zum willkommenen Anlass, eine neuerliche Welle nazistischer Gewalttaten gegen die noch in Deutschland verbliebenen jüdischen Bürger zu initiieren.

Auf Anordnung des "Reichspropagandaministers" Joseph Goebbels gehen SA und SS (in "Räuberzivil", d.h.nicht uniformiert) gegen "die Juden" vor.
1200 Synagogen werden in Brand gesteckt, jüdische Geschäfte und Privatwohnungen verwüstet und geplündert. 35000 jüdische Männer werden aufgrund vorbereiteter Verhaftungslisten in die Konzentrationslager Sachsenhausen, Buchenwald und Dachau eingeliefert. 190 Menschen werden in dieser Nacht getötet. Mehrere Hundert weitere Opfer sterben in den Lagern an Misshandlungen oder begehen Selbstmord. Am Ende dieser jetzt beginnenden radikalen Verfolgung steht die Ermordung von über sechs Millionen europäischer Juden in den Vernichtungslagern.

Ein Erinnern des deutschen Massenmordes an den Juden – wenn es in der Heimatgemeinde geschieht – zeigt leicht die Probleme, die dann entstehen, wenn Abstraktes konkret zu werden beginnt.
Über achtzig jüdische Deutsche lebten zu Beginn der dreißiger Jahre in Lich, das seinerzeit etwas mehr als zweitausend Einwohner hatte.
Ihre Namen waren Bamberger, Bing, Chambré, Goldschmidt, Isaak, Katz, Lind, Oppenheimer, Sommer, Stiefel, Windecker...
Sie wohnten mit ihren Familien in der Braugasse, der Gießener Straße, Ober- und Unterstadt, der Butzbacher Straße (jetzt Kolnhäuser Straße), der Bahnhofstraße, der Seelenhofgasse. Sechs Familienväter betrieben Viehhandel, sechs Getreidehandel, die anderen arbeiteten als Kaufleute, sie besaßen Textil-, Lebensmittel-, Altwaren-, Schuhgeschäfte.
Ihre Wohnhäuser stehen noch heute – jeder, der in Lich lebt, kennt sie, aber weiß auch jeder von den früheren Besitzern?
Kaum einer weiß, dass in Lich der erste organisierte Pogrom nicht am 9.und 10.November 1938 stattfand, sondern bereits in der Nacht vom 12.auf den 13.März 1933 – also mehr als fünf Jahre früher.
Dreißig jüdische Einwohner Lichs flohen vor der Bedrohung durch die Nazis, die Verbleibenden wurden Opfer des Pogroms am 9.November 1938 und in der Folgezeit deportiert.
Die Ziele der Deportation – soweit bekannt – waren Auschwitz, Sobibor, unbekannte Vernichtungslager in Polen, Minsk, Lódz, Izbica, Riga, Theresienstadt und Buchenwald. Viele der kurz nach 1933 Geflohenen wurden ebenfalls umgebracht, nur wenige überlebten den Massenmord.

Was die Beteiligung der Bevölkerung an dem Novemberpogrom angeht, so hat Wolf-Arno Kropat in seinem 1988 erschienenen Buch "Kristallnacht in Hessen" ernüchtert festgestellt: "Selbst wenn noch nichts 'passiert' war, (...) sammelten sich große Scharen von Neugierigen an. Schreiend und johlend verfolgten sie, wie die Juden abgeführt und ihre Geschäfte und Wohnungen zerstört wurden. Und diese Menschen schauten nicht nur zu".

Wie die folgenden Auszüge aus Gerichtsurteilen dokumentieren, folgten nicht wenige den Einsatzgruppen spontan in die jüdischen Wohnungen und beteiligten sich dort an dem Zerstörungswerk, indem sie halfen, Schränke umzustürzen und Kleinmöbel und Geschirr aus dem Fenster zu werfen.

Viele Bürger halfen mit, Synagogen zu demolieren, Kult- und Einrichtungsgegenstände herauszutragen und auf einem öffentlichen Platz zu verbrennen. Andere wiederum warteten das Ende des "offiziellen" Einsatzes ab, ehe sie sich in die verwüsteten Wohnungen und Geschäfte wagten. Oft beließen sie es bei neugierigen Herumschauen, oft haben sie das Zerstörungswerk fortgesetzt oder zu plündern begonnen. Ganze Scharen von Einwohnern strichen so durch die Straßen und suchten ein jüdisches Haus nach dem anderen auf. "Halb Lich war auf den Beinen", heißt es in einem Urteil. (Staatsarchiv Darmstadt, Abt. H1, Staatsanwaltschaft Gießen, Nr.489/ Urteil)

In Laubach schaffte man die zerstörte Inneneinrichtung der Synagoge auf den Festplatz (DOK. 30), in Lich in den nahegelegenen Ihringschen Garten, wo das Feuer dann entfacht wurde.
"Zwischen diesem Scheiterhaufen und der Synagoge bestand ein lebhafter Personenverkehr, durch welche immer neue Sachen zum Verbrennen herbeigeschafft wurden." (Kropat, W.: Kristallnacht in Hessen, Wiesbaden 1988, S. 72ff.)

"Was geschah, ist eine Warnung, sie zu vergessen ist Schuld" schrieb Karl Jaspers kurz nach dem Ende der Naziherrschaft und fuhr fort: "Man soll ständig an sie erinnern. Es war möglich, daß dies geschah – und es bleibt möglich. Nur im Wissen kann es verhindert werden."

Klaus Konrad-Leder
(Ernst-Ludwig Chambré Stiftung)
Geschrieben 1998 anlässlich der ersten Veranstaltungsreihe zum 9. November 1938 in Lich.


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