am Institut für Germanistik der Justus-Liebig-Universität Gießen

Mordechai Strigler: Schicksale. Ein früher Zeitzeugenbericht über die Opfer der Schoah

von Sandra Binnert

2016 erschien die deutsche Übersetzung des ersten Bandes der Tetralogie „Verloschene Lichter. Ein früher Zeitzeugenbericht über die Opfer der Schoah“. Nun, acht Jahre später, erscheint schließlich der letzte Teil des großen, literarisch aufgearbeiteten Zeitzeugenberichts des Schriftstellers, Essayisten und Journalisten Mordechai Strigler auf Deutsch. Die Werke umspannen überschaubare 15 Monate, was während des Lesens des umfangreichen Berichtes doch sehr schwer zu greifen ist. Im ersten Buch berichtet Strigler über seine kurze Haftzeit in Majdanek, während er in den anderen drei Büchern die Zeit als Zwangsarbeiter in Skarżysko-Kamienna thematisiert. Die Analyse der Lebensbedingungen und der Einflüsse auf die Individuen geht in die Tiefe und entfaltet eine große, komplexe, ja, man muss sagen, soziologische Breite.

„Der Herr Mechele ist Historiker und er will, dass von uns etwas für die Geschichte bleibt, selbst dann, wenn wir schon nicht mehr leben werden. Es ist eine gute Sache, was er tut. Er wird auch dich nicht in Vergessenheit geraten lassen“ (S. 337). Im Fokus steht hier, so wie in den beiden vorangegangenen Bänden auch schon, das Sozialfeld des Werkes C der Munitionsfabrik des HASAG-Konzerns in Skarżysko-Kamienna. Das Besondere dieses einzigartigen Textes ist die konsequente Fokussierung auf einzelne Personen, die mit ihren inneren Zwiespälten und Zwängen geschildert werden. Dabei geht es nicht nur um die Häftlingsgesellschaft an sich, sondern es werden alle sozialen Schichten des Lagers mitberücksichtigt und damit auch in Teilen die Tätergesellschaft.

Der Bericht beginnt mit der Ankunft eines neuen Transportes aus Krakau im Jahr 1943. Dieser bringt durch die etwas bessere Verfassung der neuangekommenen Menschen das Lagerleben in Bewegung. Es bilden sich neue Hierarchien und Verhältnisse. Mechele, aus dessen Perspektive das Buch verfasst ist, beschreibt einzelne Neuankömmlinge sehr genau und schmückt diese Schilderungen mit Hintergrundinformationen aus. Er wird von vielen Gefangenen als eine vertrauenswürdige Person angesehen, so dass sich viele Menschen mit ihren Lebensgeschichten, Wünschen und Hoffnungen an ihn wenden. Außerdem bekommt er einige Einblicke in die Machtverhältnisse, die sich in dem HASAG-Lager ganz anders gestalten als in den Konzentrationslagern. So besteht etwa reger Kontakt zu anderen (auch zivilen) Zwangsarbeiter:innen, und die Gefangenen sind nicht vollständig nach Geschlechtern separiert.

Im Laufe der Zeit wird eine Baracke für die sogenannten „Prominenten“ und „Intelligenzler“ errichtet. Zu Mecheles Erstaunen und auch Unbehagen darf er in diese Baracke einziehen. Hier führt Mechele die meisten Unterhaltungen, beobachtet die Menschen in ihren Eigenarten und macht sich Notizen. Er begegnet allen Menschen auf ähnliche Weise und hört ihnen zu, auch wenn er mit ihren Lebenswegen und Entscheidungen nicht immer einverstanden ist.

Eines Tages kommt eine Truppe SS-Männer in das Lager. Sie haben einen Sonderauftrag und nehmen 20 Leute mit auf eine unbestimmte Reise. Die Angesprochenen fürchten sich und sind besorgt, dass sie nicht mehr ins Lager zurückkehren werden. Mechele lernt in diesem Zusammenhang den zukünftigen Kommandanten kennen, der Gefallen an Mechele findet. Diese Verbindung ist nicht ungefährlich, hilft ihm jedoch im Laufe seines Lagerlebens in einigen Situationen. Die Gruppe kommt in die Stadt Skarżysko-Kamienna, die inzwischen „judenfrei“ ist. Sie bekommen eine Stunde Freizeit gewährt, bevor sie Waren zurück ins Lager transportieren sollen. Mechele übt eine Art der persönlichen Rache an den Pol:innen vor Ort. Er spürt ihr Unbehagen gegenüber seinem Judenstern und ‚erschreckt‘ sie, indem er ihnen sein Jüdischsein überschwänglich mitteilt.

Der neue Kommandant verändert das Lager und die dort herrschenden Lebensbedingungen. Damit verändert sich auch Mecheles Position. Alle bekommen neue Kleidung und Schuhe, das Lager soll nicht mehr so heruntergekommen aussehen. Die Sachen stammen unter anderem aus den Magazinen im Konzentrations- und Mordlager Majdanek. Die Opfer haben in ihren Kleidungsstücken häufig ihre letzten Wertgegenstände versteckt, um sie einerseits nicht an die Nationalsozialisten abtreten zu müssen und um andererseits ihre Überlebenschancen zu erhöhen. Durch die in Kleidung und Schuhen versteckten Edelsteine, Goldwaren und Geldscheine floriert das Lagerleben und der dortige Schwarzmarkt.

Ende 1943 wird auch bei den äußeren Einflüssen auf das Lager deutlich, dass es einen Wechsel in der politischen Haltung gegen jüdische Zwangsarbeiter gibt. So beobachtet Mechele, dass der Krieg immer mehr Arbeitskraft für die Fabriken einfordert und der „Verschleiß“ an Menschen nicht mehr wirtschaftlich zu sein scheint. Nach und nach kommen immer neue Kommissionen aus Deutschland, um die Verhältnisse im Lager zu inspizieren. Es folgt eine kurze Zeit des Aufatmens, in der die Gefangenen wieder ihren menschlichen Bedürfnissen nach Nähe und Unterhaltung nachgehen können. Doch der Schein trügt, denn während auf der einen Seite das Leben etwas erträglicher wird, werden die Gefangenen auf der anderen Seite Zeuge, wie sich immer mehr mysteriöse Menschen im Wald versammeln. Sie ziehen strohene Wände hoch, die eine Sicht auf das, was sich dort abspielt, versperren sollen. Es stellt sich jedoch schnell heraus, dass es andere Gefangene sind, die den Befehl bekommen haben, die Beweise der Vernichtung in Werk C und der Umgebung zu verschleiern. Es handelt sich dabei um die sogenannte „Sonderaktion 1005“, bei der Massengräber geöffnet und die verbliebenen Überreste der Opfer vernichtet wurden.

Im Jahr 1944 merken auch die Gefangenen, dass die Front näher rückt; es werden Pläne geschmiedet, wie man vielleicht doch überleben könnte. Die jüdische ‚Kommandantin‘ Fela und ihre Mitverantwortlichen sammeln alles an Geld, um aus dem Lager fliehen zu können, geraten aber in einen Hinterhalt. Mechele berichtet von einer Massenerschießung im Wald, bei der ein beachtlicher Teil der Menschen des Lagers getötet wird. Die zurückgebliebenen Gefangenen, die aus unterschiedlichen Gründen nicht mitgeflohen waren, sind nach diesem Vorfall verängstigt und fügen sich den Befehlen. Bevor sie mit einem Transport nach Buchenwald kommen, sitzen sie ihre Zeit ab und warten auf weitere Befehle. Doch auch hier widmet sich Mechele wieder seiner inneren Bestimmung und notiert alles, was er erlebt: „Mechele beschrieb mit einem Bleistift kleine Zettelchen und Papierfetzen und drückte sie in Löcher der Baracke, an die er angelehnt saß. Er zeichnete in gelassenen Wörtern alles auf, was hier passierte, für die, die nach den Deutschen hierher kommen würden. […] Die Knallerei in der Ferne wurde schärfer und verbissener“ (S. 668).

Das Werk schafft es auf besondere Weise, die Psyche des jungen Mannes einzufangen: Die Lesenden erfahren viel über seine inneren Kämpfe, über seine Ziele und wie er darum ringt, diesen treu zu bleiben. Mechele ist fromm und möchte auch als frommer Mensch aus dem Lager herauskommen, doch wird dieser Wunsch immer wieder durch die Umstände und Mitgefangenen herausgefordert. Sein Hadern, seine Zweifel und Sehnsüchte stehen häufig im Fokus des Berichts. Diese äußern sich auch im Austausch mit den Mitgefangenen, deren Liebesbeziehungen, Glücksfälle, Schmerzen und Verluste in dem Werk ebenfalls Raum finden. Da es sich bei dem Lager der HASAG-Werke nicht um ein von der SS geführtes Konzentrationslager handelt, sind die strukturellen Gegebenheiten andere: Neben all dem Leid, können sich die Zwangsarbeiter:innen trotzdem relativ frei austauschen und durch gezielte Sabotageakte und Kreativität ihre Überlebenschancen zumindest ein wenig verbessern.

Insgesamt ist „Schicksale“ ein Werk, das die Menschen in ihrer Einzigartigkeit zeigt. Im Nachwort heißt es etwa, dass es sich um Typen handele, die herausgepickt wurden, um etwas über die Gesellschaft und Gemeinschaft sagen zu können, die sich die Gefangenen aufzubauen versuchten. Die Schilderungen Striglers sind nicht nur in ihrer Art und Weise einzigartig, es gibt auch zum Komplex ‚Werk C‘ zu diesem Zeitpunkt kaum weitere publizierte Berichte.

Die schiere Menge an dargestellten Menschen macht das Werk etwas unübersichtlich und sprunghaft, es ist aber auch das, was den Bericht so besonders macht. Diese Art der Vermittlung macht deutlich, wie politische Entscheidungen, firmenpolitische Handlungen und der Kriegsverlauf auf die gefangenen Individuen gewirkt haben. Schreiben und kulturelle Veranstaltungen sind hier als Akte des Widerstands und Überlebenswillens zu sehen. Der letzte Band der Tetralogie ist ein bemerkenswertes Zeugnis, weil er einen Bereich der nationalsozialistischen Terrorherrschaft zeigt, der außerhalb des KZ-Systems lag und eng mit der Geschichte großer deutscher Firmen, in diesem Fall der HASAG, verwoben ist.

Mordechai Strigler: Schicksale. Ein früher Zeitzeugenbericht über die Opfer der Schoah
Herausgegeben von Frank Beer
Aus dem Jiddischen von Sigrid Beisel
Springe: zu Klampen Verlag 2024
694 Seiten, 48 Euro
ISBN: 9783987370021


Auf unserer Homepage finden Sie auch Rezensionen zu den anderen Bänden der Tetralogie von Mordechai Strigler:

  • Band 1: Mordechai Strigler: Majdanek. Ein früher Zeitzeugenbericht vom Todeslager. Herausgegeben von Frank Beer, aus dem Jiddischen übersetzt von Sigrid Beisel. Springe: zu Klampen Verlag 2016. 
    Zur Rezension von Markus Roth
     

  • Band 2: Mordechai Strigler: In den Fabriken des Todes. Ein früher Zeitzeugenbericht vom Arbeitslager. Herausgegeben von Frank Beer, aus dem Jiddischen übersetzt von Sigrid Beisel. Springe: zu Klampen Verlag 2017.
    Zur Rezension von Sandra Binnert
     
  • Band 3: Mordechai Strigler: Werk C. Ein Zeitzeugenbericht aus den Fabriken des Todes. Herausgegeben von Frank Beer, aus dem Jiddischen übersetzt von Sigrid Beisel. Springe: zu Klampen Verlag 2019.
    Zur Rezension von Sandra Binnert

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