am Institut für Germanistik der Justus-Liebig-Universität Gießen

Eine „Kette aus verschiedenen Wundern“ – Nachbericht über die Buchvorstellung von „Briefe aus der Asche. Die Aufzeichnungen des jüdischen Sonderkommandos Auschwitz“ mit den Historikern Pavel Polian und Andreas Kilian

07.03.2025

11. Februar 2025

Im Dezember vergangenen Jahres erschien im Herder Verlag die zweite Auflage der Gesamtausgabe „Briefe aus der Asche“ des deutsch-russischen Historikers Pavel Polian. Das Werk versammelt in deutscher Übersetzung die neun erhaltenen Zeugnisse der Angehörigen des sogenannten „Sonderkommandos Auschwitz“, die in den Krematorien des größten deutschen Konzentrations- und Vernichtungslagers schrecklichste Zwangsarbeit leisten mussten. In ausführlichen Essays bettet Polian sie zudem in den historischen Kontext ein. Im Rahmen zweier Veranstaltungen der Lagergemeinschaft Auschwitz (LGA) – zuletzt am 11. Februar in Kooperation mit der Arbeitsstelle Holocaustliteratur – stellten Autor Pavel Polian und LGA-Vorstandsmitglied Andreas Kilian, der maßgeblich an der Neuauflage beteiligt war, diese „zentralen Egodokumente des Holocaust“ vor. Im Konferenzraum des GCSC der JLU Gießen sprachen sie vor zahlreich erschienenem Publikum über die Entstehungs- und Entdeckungsgeschichte dieser einzigartigen Aufzeichnungen, die, so Polian, einer „Kette von verschiedenen Wundern“ gleiche.

Die „letzten Zeugen und ersten Chronisten“ des Völkermords

„Die Dramen, die meine Augen gesehen haben, sind unbeschreiblich“, schrieb Marcel Nadjari. Der griechische Kaufmann wurde im April 1944 nach Auschwitz deportiert und war einer von insgesamt über 2.000 meist jüdischen Gefangenen, die im sogenannten Sonderkommando in Auschwitz zur Zwangsarbeit verpflichtet wurden. Seine Aufgabe bestand darin, Mitgefangene in die Gaskammern zu führen, ihre Leichen zu verbrennen und schließlich die Asche zu entsorgen. Das Kommando verfolgte aus Sicht der SS zwei perfide Ziele: Zum einen sollte das eigene Personal psychisch entlastet, zum anderen jede Spur des Massenmords – und damit auch der historischen Existenz der Opfer – beseitigt werden. Doch damit war auch das Schicksal der Sonderkommando-Häftlinge besiegelt: Turnusmäßig wurden sie ermordet, um sich ihrer als „direkten Zeugen des Mordgeschehens“ zu entledigen, wie Felix Luckau (AHL) in seiner die Buchvorstellung eröffnenden Rede betonte. Umso bemerkenswerter sei es, so führte er fort, dass einige ihrer Zeugnisse dennoch überliefert wurden: In Erwartung des eigenen Todes vergruben einige Angehörige des Sonderkommandos Briefe und Notizen, in denen sie die Gräuel von Auschwitz dokumentierten, in der Erde rund um die Krematorien – einzig in der Hoffnung, dass ihre Stimmen eines Tages Gehör finden würden.

Von der Wiederentdeckung des „St. Petersburger Manuskripts“

Einer der mutigen Chronisten war Salmon Gradowski, einer der Anführer des Aufstands des Sonderkommandos im Oktober 1944. Seine Aufzeichnungen bildeten den Ausgangspunkt für die Edition von Pavel Polian und stellten somit das erste Glied in einer „Kette aus verschiedenen Wundern“ dar, die letztlich zur Entstehung des Buches führte. Wie er an diesem Abend schilderte, stieß er im Jahr 2003 während seiner Recherchen zu sowjetischen Kriegsgefangenen im Archiv des Zentralen Wehrmedizinischen Museums in St. Petersburg zufällig zwei Dokumente aus Gradowskis Feder. In seiner mit „Im Herzen der Hölle“ betitelte Schrift, aus dem Andreas Kilian bei der Buchvorstellung vorlas, richtet sich Gradowski direkt an zukünftige Leser und berichtet von der „Barbarei“ und „Grausamkeit“ jener „irdischen Hölle […], die Birkenau-Auschwitz genannt wird“. Der Text sei, so Polian, auch ein „Appell an die Nachkommen“, akribisch nach Dokumenten zu suchen. Gradowski schreibt: „Das Ziel meines Aufsatzes besteht darin, dass die Welt wenigstens einen kleinen Teil dessen erfährt, was hier wirklich geschieht – und sich dafür, für all das hier rächt. Das ist das einzige Ziel, der einzige Sinn meines Lebens. Ich lebe hier mit dem Gedanken, in der Hoffnung, dass meine Notizen bei dir [dem Leser] ankommen.“

Zugleich verdeutliche der Text die Bandbreite der Genres der Texte des Sonderkommandos, erklärte Polian. Denn Gradowskis Schrift habe nicht nur einen dokumentarischen, sondern auch einen dezidiert literarischen Charakter. An dem „schrecklichen Ort, der keinesfalls zur Kreativität inspiriert“, sei so dennoch eine „poetische Prosa“ als Ausdruck menschlicher Widerstandskraft entstanden, so der deutsch-russische Historiker und Kulturgeograf.

Die „Wiedergeburt eines Textes“

Ein weiteres Beispiel für die ‚wundersamen‘ Umstände der Überlieferung der Handschriften des Sonderkommandos ist der eingangs zitierte, vermutlich 1944 verfasste Abschiedsbrief von Marcel Nadjari, der 1980 in einem zerbrochenen Glaskolben in der Nähe der Ruine des Krematoriums III gefunden wurde. Da fast 90 Prozent der Schrift durch die jahrzehntelange Lagerung in der Erde verwittert waren, galt der Text lange Zeit als zerstört. Erst moderne multispektrale Fototechniken erlaubten es Polian und dem russischen IT-Experten Aleksandr Nikitjaev, rund 80 Prozent der zuvor unleserlichen Passagen durch hochauflösende Scans sichtbar zu machen und zu entschlüsseln. Die sensationelle Wiederentdeckung und Erstveröffentlichung des Briefes im Jahr 2017 löste ein breites Medienecho aus. Nadjari, einer von weniger als 20 Überlebenden des Sonderkommandos, erlebte diesen Moment jedoch nicht mehr: Er war bereits 1971 in den USA verstorben.

Die „verbotene Suche“

Nadjaris Brief ist eine von insgesamt neun „Papierrollen“ des Sonderkommandos, die zwischen 1945 und 1980 aus der Erde von Auschwitz geborgen werden konnten. Experten wie Andreas Kilian vermuten jedoch, dass noch Dutzende weitere Zeugnisse auf dem Gelände der ehemaligen Krematorien verborgen sind. Allerdings sei die Suche streng reglementiert, was die Bergung weiterer Manuskripte erschwere. Manchen Hinweisen sei auch nicht nachgegangen worden. Kilian berichtete zudem, dass bislang keine professionelle, gründliche und umfassende Ausgrabung der Handschriften des Sonderkommandos stattgefunden habe. Über die Gründe lasse sich letztlich nur spekulieren. Fest stehe, dass die Handschriften ein „einzigartiges Weltkulturerbe“ seien, wie Kilian auch in seinem Nachwort zum Band betont, schließlich stammen sie von den „einzigen Augenzeugen, die darüber berichten konnten, was im Herzen der Hölle, in den Vernichtungseinrichtungen selbst, passierte“. Und so gebe es eigentlich „sehr gute Gründe, weiter nach ihnen zu suchen“, resümiert der Experte.

Polians Edition stellt somit bis auf weiteres die definitive Sammlung der Handschriften des jüdischen Sonderkommando-Chronisten dar, die dem ausdrücklichen Wunsch ihrer Verfasser folgt, ihre Zeugnisse der Nachwelt zugänglich zu machen. Zugleich bleibe sie aber auch ein notwendigerweise unvollständiges Puzzle – es sei denn, weitere Schriften des Sonderkommandos würden auf ähnlich „wundersame Weise zutage gefördert“, so Kilian. „Wer weiß“, sagte Polian abschließend, „was uns noch nicht zugänglich ist – und vielleicht auch nie wird.“


Im Gießener Anzeiger ist am 13. Februar ebenfalls ein Bericht über die Buchvorstellung erschienen. Zum Artikel von Enrico Schierer gelangen Sie hier.


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