am Institut für Germanistik der Justus-Liebig-Universität Gießen

Edward Anders: Amidst Latvians During the Holocaust

Es ist eine Holocaustgeschichte. Allerdings eine Geschichte ohne Gettos, Konzentrationslager, Hungermärsche – und doch die Geschichte, wie eine jüdische Familie in Lettland versuchte, die nationalsozialistische Verfolgung zu überleben. Es ist die Geschichte von Edward Anders.

Andersʼ Autobiografie, die – das sei zu Anfang bereits gesagt – weniger emotional, sondern wissenschaftlich aufgebaut und untermauert ist, unterscheidet sich von den Schicksalen der Mehrzahl der lettischen Juden, die nicht überlebten. Und dies tatsächlich nur wegen einer Lüge, die seine Mutter den Deutschen 1941 erzählte.

Doch zunächst zu seiner Geschichte: Edward Anders wird als Eduard Alperovičs 1926 im lettischen Liepāja (dt. Libau) in eine jüdische Familie hineingeboren und wächst kulturell assimiliert, lettisch und deutsch sprechend und eine deutsche Schule besuchend auf. Offen schildert Anders das wirtschaftliche Auf und Ab der Familie, die Eheprobleme der Eltern, seine Freizeit und den Alltag in den 1930er Jahren, spricht über Cousins, Schulfreunde, Untermieter und die sowjetischen Besatzer. Die Besetzung Lettlands 1941 durch die Deutschen nimmt nicht nur die Familie, sondern auch ein großer Teil der lettischen Bevölkerung als Befreiung von der sowjetischen Herrschaft wahr – bis auch hier die Vernichtung der Juden beginnt, deren Höhepunkt die Massenerschießungen vom 15. bis 17. Dezember 1941 sind, denen etwa 2.350 Menschen zum Opfer fallen. Jedoch nicht Familie Alperovič. Grund dafür ist eine einfache Lüge: Die Mutter Erika Alperovič (1895-1992) behauptet, keine Jüdin zu sein, sondern als ‚arisches‘ Findelkind von jüdischen Eltern aufgezogen worden zu sein. Aus den Brüdern Georg und Edward werden so 'Halbjuden', die Mutter zur Deutschen. Es bleibt zwar ein Leben als Bürger zweiter Klasse, doch die unsichere Rechtslage ermöglicht den drei Familienmitgliedern ein Leben außerhalb des Gettos zu führen und vor den Erschießungen gerettet zu sein. Vater Adolf (*1897) jedoch bleibt wer er ist, die Lüge auf ihn auszuweiten wäre zu gefährlich gewesen: Er wird in seinem Versteck in der Wohnung verraten und am 9. Dezember 1941 erschossen. Die folgenden Jahre sind geprägt von der Gefahr der Entdeckung, den Versuchen, glaubhafte Urkunden für ihre Lüge zu finden bzw. existierende Dokumente zu ‚bearbeiten‘, und dem ganz normalen Alltag ("Life goes on", S. 75). Georg, der ältere Bruder (1926-1944), wird gar von den Deutschen zum militärischen Einsatz eingezogen; er stirbt an den Folgen einer dort eingefangenen Krankheit. Mutter und Sohn entscheiden sich 1944 für einen Umzug nach Deutschland, in ihrer Position als "friendly refugee" (S. 101) ist dies für sie möglich. Eine unglaubliche Situation: Zwei Juden ziehen während des Zweiten Weltkriegs in das Deutsche Reich und geben sich im Chaos der letzten Kriegsmonate als 'Vollarier' aus, doch – wie Anders schreibt – "several miracles, plenty of luck, and the right decision at critical moments" (S. 5) machten ein Überleben möglich.

Viele andere Geschichten enden an dem Punkt der Befreiung, doch Anders‘ Biografie dankenswerterweise nicht. In drei der zehn Kapiteln schildert er sein Leben als Displaced Person (DP) in München, sein Chemiestudium an der UNRRA-Universität (speziell nur für DPs), seine Mitarbeit bei den Nürnberger Prozessen, die Schwierigkeiten mit anderen Juden in Fragen des eigenen Opferstatus, den Alltag im Nachkriegs-München, die Emigration in die USA und seinen akademischen Aufstieg dort. Gerade über diese Aspekte sind bisher wenige Erinnerungen publiziert.

Das Buch verdankt sich einer – im Gegensatz zum Inhalt – fast 'klassischen' Entstehungsgeschichte: Für Freunde und Familie schrieb Anders seine sehr präzisen Erinnerungen an sein Leben und Überleben in Lettland auf. Dementsprechend ist der Stil des Buches anekdotenreich, oft allwissend, mit vielen Erklärungen zu geschichtlichen Entwicklungen und Tatsachen, angereichert mit Fotografien und reproduzierten Originaldokumenten. Es soll ein vollständiges Bild für seine heutigen Leser entstehen, die zuvor nichts über den Holocaust an den lettischen Juden wussten.

Anders wird nach dem Krieg Naturwissenschaftler – ein Charakterzug, den man im Text erkennen kann: Das Buch ist chronologisch stringent und ehrlich verfasst, der Ton ist selbst in emotionalen Momenten nüchtern; nur ab und an erzählt er großväterlich. Durchgehend ist jedoch der didaktische Anspruch des Buches bemerkbar: Anders liegt das Verhältnis zwischen alter und neuer Welt, Gegenwart und Vergangenheit, zwischen den verschiedenen Ländern und Menschen am Herzen. Immer wieder thematisiert er die Versöhnungsbestrebungen beider Seiten – und die damit einhergehenden Probleme. In diesem Zusammenhang zeichnet er ein differenziertes Bild der Letten und Deutschen in den 1940er Jahren und ruft immer wieder dazu auf, den einzelnen Menschen zu bewerten und nicht über ihn verallgemeinernd als Teil einer Gruppe oder Nation zu sprechen.

Das Besondere an diesem Buch sind zwei Punkte: Zunächst die Vermischung von einer Vielzahl persönlicher Erinnerungen mit einer direkten historischen Einordnung. Dies geschieht in wissenschaftlichen Fußnoten mit Verweisen auf Sekundärliteratur, Internetseiten (wie die von Anders selbst mitbetreute Seite zu den Juden seiner Heimatstadt), durch die Kontextualisierung der eigenen Erlebnisse im Fließtext und vor allem im zweiten Kapitel "Latvians in WWII: An Evenhanded Analysis". In diesem fast schon wissenschaftlichen Essay thematisiert Anders die Rolle der lettischen Bevölkerung im Zweiten Weltkrieg und besonders bei der Ermordung der Juden ebenso wie seine eigene Rolle bei deren Aufarbeitung. Der Grundtenor bleibt auch hier: Eine einfache Einteilung in Gute und Böse ist nie möglich, und so ist auch eine verallgemeinernde Verurteilung der Letten als "vicious antisemites" nicht länger tragbar.

Neben dieser stilistisch-inhaltlichen Bedeutung ermöglicht der Text eine neue Perspektive auf eine Zeit, die man aus Anders‘ Situation heraus neu sehen kann. Er lebte als 'Halbjude' zwar als Bürger zweiter Klasse in seiner Heimatstadt, aber er lebte – im Gegensatz zu 98 % der lettischen Juden, die der Verfolgung zum Opfer fielen. Diese Alltagsgeschichte macht die Erinnerungen von Edward Anders ungewöhnlich und lesenswert.


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